Von der Pflicht zur Solidarität
Nach 200 Jahren fragt sich die Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St. Gallen (GGKSG), ob es eine Institution wie sie noch braucht. Wo liessen sich besser grundsätzlich über die Frage Gedanken machen, als an der Jubiläumsfeier? Zahlreiche Prominente, darunter Bundesrätin Karin Keller-Sutter, gaben interessante Anregungen.
Dass sie eigens aus Bern nach St. Gallen in den Pfalzkeller angereist kam, sei nicht dem Heimweh geschuldet: „Ich vertrete den ganzen Bundesrat und grüsse deshalb besonders Jean-Daniel Gerber von der Schweizerischen Gemeinnützige Gesellschaft. Es freut mich, alle Gemeinnützigen zu würdigen.“ Karin Keller-Sutter strich vor den zahlreichen anwesenden Regierungsräten, Stadträten, kantonalen Vertretern, darunter die Präsidentin des Kantonsrats und kirchlichen Oberhäuptern, gemeinsame Berührungspunkte zwischen den Gemeinnützigen und ihrem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement heraus. Dies sei historisch bedingt, habe doch die GGKSG Anstalten im Erziehungswesen gegründet und betrieben, sei gegen Spielsucht angetreten oder sich mit Strafrecht beschäftigt.Sie engagierten sich zudem für Integrationsprojekte wie Deutschkurse für fremdsprachige Frauen. Diese Ziele verfolge auch das Staatssekretariat für Migration (SEM), das ihr unterstehe. Heute habe zwar der Staat viele der einstigen Aufgaben der Gemeinnützigen übernommen: es gebe Strafanstalten und die Spielsucht sei reguliert. Trotzdem: „Die Welt der Gemeinnützigkeit und die der Eidgenossenschaft sind eng miteinander verwoben. Die Wohlfahrt der Bewohnerinnen und Bewohner unseres Landes ist das erklärte Ziel beider. Die Eidgenossenschaft fördert die gemeinsame Wohlfahrt, heisst es in Artikel 2 Absatz 2 der Bundesverfassung. Es gehe um ein Zusammenspiel von privater und staatlicher Gemeinnützigkeit. Wie wertvoll diese private Hilfeleistung noch immer ist, machte die Bundesrätin mit ein paar Zahlen deutlich. Durchschnittlich leisten Schweizer 1,8 Stunden Freiwilligenarbeit pro Woche, was sich jährlich im ganzen Land zu über 660 Millionen Arbeitsstunden summiere. In Wert gesetzt mache dies 34 Milliarden Franken aus. Dies entspreche dem Bildungsetat des Landes. Und die Bundesrätin warnt: „Wenn immer weniger sich zuständig fühlen und ihre Eigenverantwortung nicht mehr wahrnehmen, wird die Liste der Forderungen an den Staat immer länger. Und je häufiger der Staat diesen Forderungen nachkommt, desto mehr fördert er eine gefährliche Entsolidarisierung: Dass nämlich der Einzelne sich nicht mehr verantwortlich fühlt für das Ganze.“ Organisationen wie die Gemeinnützigen seien Seismographen im ganzen Land, die dem Staat signalisierten, wo er tätig sein müsse und wo nicht.
Am Tisch mit Petrus
Das Spannungsfeld zwischen Aufgabenteilung und Sinnhaftigkeit der gestellten Aufgabe im 21. Jahrhundert beschäftige auch GGKSG-Präsident Hubertus Schmid in seiner Festansprache. In einer Vision sass er mit mehreren Alt-Präsidenten, also Vorgängern, an einem Tisch und debattierte mit ihnen über ihren Verein. Fest stehe, dass viele ehemalige Aufgaben vom Staat oder anderen Stiftungen, Verbänden und Hilfswerken übernommen werden. Anderseits sichere materieller Wohlstand alleine nicht geistig-seelisches Wohlbefinden. Dazu gehörten Beziehungen zu anderen Menschen. Hubertus Schmid: „Die GGK sollte deshalb künftig auf Initiativen und Projekte fokussieren, die den Menschen in ihrem Lebensraum Geborgenheit und Zugehörigkeit vermitteln und die soziale Kohäsion stärken. Doch Hubertus Schmid und die Alt-Vorderen waren sich einig: „Gemeinsinn und zivilgesellschaftliches Engagement lassen sich nicht erzwingen. Dazu braucht es nicht in erster Linie Geld, sondern geistige Ressourcen, Empathie und Gemeinsinn.“ Dieser Gemeinsinn sei eine Bürgerpflicht. Um dies zu belegen, ergänzte Hubertus Schmid Karin Keller-Sutters Exkurs in die Tiefen der Verfassung mit Artikel 6, wonach jede Person für sich selber Verantwortung wahrnimmt und darüber hinaus nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft beiträgt.“ Weil Gemeinsinn deshalb mehr ist als privater Luxus oder ein Hobby, müsse die Öffentlichkeit für den sozialen Zusammenhalt stärker sensibilisiert werden. Dies gelinge vor allem durch die Stärkung lokaler gemeinnütziger Organisationen. „Wir müssen Orte der Begegnung in Dörfern und städtischen Quartieren schaffen für Menschen unterschiedlicher Herkunft. Ausserdem sollten wir uns der Begleitung und Betreuung selbständig lebender betagter Menschen annehmen, denn hier kündigt sich ein grosser Bedarf an“, forderte Hubertus Schmid. Dass Freiwilligenarbeit weiterhin gefördert werden soll, ist auch in Zukunft ein Kernauftrag der GGK, jedoch solle sie mehr Mut bei der Entwicklung eigener Projekte zeigen, um die Attraktivität bei der jüngeren Generation, aber auch den Gönnern zu erhöhen.
Freiwilligenarbeit wirkt als Brückenbauer
Bis dahin müssen die Lebenden den Gedanken der Gemeinnützigkeit hochhalten. Regierungsrat Stefan Kölliker bezeichnete das freiwillige Engagement als Stärke der Gemeinschaft, es gehöre zu einer vitalen Gesellschaft. Damit nahm der Vorsteher der Bildungsdepartements Bezug auf eine Aussage des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Ban Ki-moon, was gleichzeitig auch die Universalität des Inhalts unterstreicht. „Das freiwillige Engagement hat in der Schweiz eine grosse Tradition, ein Viertel der Bevölkerung engagiert sich und siebzig Prozent spenden jährlich“, erklärte Stefan Kölliker. Doch man könne sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Es gebe zwar keinen Rückgang beim freiwilligen Engagement, aber doch eine Verschiebung, beispielsweise zu kurzfristigen Mobilisierungen durch das Internet. Aber auch Plattformen wie Wikipedia bauten auf die Freiwilligenarbeit. Ohne Freiwilligenarbeit und Partizipation würde das Gemeinwesen nicht funktionieren, so Kölliker. Deshalb tauche das Thema zwischen 2017 und 2027 auch imSchwerpunktprogramm der St. Galler Regierung auf. In Anspielung an die vielen Organisationen, Vereine und sozialen Intuitionen, die auf Freiwilligenarbeit basieren, bezeichnete Kölliker sie als Ausdruck von Visionen und innovativer Treibkraft. Sie wirkten als Brückenbauer, brächten junge Menschen aus allen Richtungen zusammen und seien eine Stimme für den sozialen Zusammenhalt im Kanton St. Gallen.
Lue dä ghört o derzue
Für den musikalischen Rahmen der Jubiläumsveranstaltung sorgten Chor der Studentinnen und Studenten der Pädagogischen Hochschule St. Gallen unter der Leitung von Rolf Engler und Martin Lehner.Das Theaterensemble der Schule unter der Leitung von Kirstin Ludin präsentierte mit „Lue dä ghört o derzue“ in Anlehnung an das gleichnamige Lied von Mani Matter eine Collage über das Vereinsleben, die auch die späteren Teilnehmer einer kurzen Diskussionsrunde inspirierte.
Martin Schmidt, Präsident der Evangelisch-Protestantischen Kirchenrates Kanton St. Gallen, betonte in der Diskussionsrunde: „Freiwilligenarbeit wird viel zu defizitorientiert betrachtet. Ich kann mit sozialem Engagement glückliche Stunden verbringen.“ Die Diskussionsrunde leitete der ehemalige SRF-Bundeshausredaktor Hanspeter Trütsch. Sowohl Martin Schmidt, Jürg Lymann, Präsident der Ärztegesellschaft des Kantons St. Gallen, Valeria Signer, Vorstand der Studentenschaft an der PHSG, Imelda Stadler, Kantonsratspräsidentin, Roland Ledergerber Präsident der IHK und Michael Steiner, CEO der Acrevis Bank, engagieren sich auf die eine oder anderen Weise im Rahmen der Freiwilligenarbeit. Martin Schmidt aus Sargans erklärte warum man sich engagieren solle: „Bei Freiwilligenarbeit ist die Summe von eins plus eins drei und eben nicht zwei. Denn sie ist ein Gewinn für alle.“ In diesem Punkt waren sich alle Gesprächsteilnehmer einig.
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